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Neuerer oder Erneuerer
1. Natur und Gnade
Wie heiß haben die Jahrhunderte um die Lösung dieser Frage gerungen.
Bis heute scheint der Kampf noch nicht sein Ende gefunden zu haben. Seit der
Begegnung Christi mit Johannes, dem ersten Bußprediger am Jordan, bis zur
Heiligsprechung des seligen Grignon de Montfort, die erst im Juli 1947 erfolgte,
entbrannte immer wieder stets mit erneuter Heftigkeit der Streit um die
Abgrenzung von Natur und Gnade. Soll man sich an Christi Wort halten: „Wer
mein Jünger sein will, verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz und folge mir
nach;“ (Mt 16,24) –
oder soll man das andere Wort des göttlichen Meisters zur Richtschnur seines
Handelns machen, das er von seinen Jüngern gesagt hat: „Solange sie den Bräutigam
bei sich haben, können sie nicht fasten.“? (Mk 2,19)
Idealgesinnte,
hochstrebende Menschen fühlen stets zu sehr die ganze Schwere ihrer Natur. Sie
werden stets an das Wort des Paradiesfluches erinnert, dass der Mensch Staub ist
und zu Staub zurückkehren wird. In ihren Gliedern wuchert ein anderes Gesetz
als das, welches sie aus der gnadenspendenden Hand des taufenden Priesters
empfingen. Ihre Seele scheint geteilt. Sie sind wie Menschen mit zwei Seelen in
der Brust. Stöhnend, fast verzweifelt bekennt es Paulus, der einst
wutschnaubende Christusverfolger, den Römern: „O ich unglücklicher Mensch!
Wer wird mich befreien von diesem Leibe des Todes?“ (Röm 7,24) Dieses Wort
wurde wie ein Adventruf für die folgenden Jahrhunderte. Augustinus und
Hieronymus, Bernhard von Clairvaux und Katharina von Siena, Strindberg und
Dostojewski haben es Paulus nachgefühlt und nachgeseufzt.
Solche
Menschen, die an ihrer sündenbeschwerten Natur zu zerbrechen drohen, müssen
erklärte Gegner ihrer triebentfesselten Regungen und Wünsche werden. Diese
wissen das zügelnde Mittel des hl. Paulus in seinem vollen Wert zu schätzen:
Ich züchtige meinen Leib und bringe ihn in Dienstbarkeit, damit ich nicht etwa
anderen predige und selbst verworfen werde.“ (Mt 9,27) Es ist nichts anderes
als die Verwirklichung der radikalen Forderung Jesu: „Wenn dien Auge dir zum
Ärgernis wird, so reiß es aus. Es ist besser für dich, du gehst mit einem
Auge ins Reich Gottes, als dass du mit zwei Augen in die Hölle geworfen wirst,
wo der Wurm nicht stirbt und das Feuer nicht erlischt.“ (Mk 9,47)
Ganz
anders ist der Weg, den Johannes, der Lieblingsjünger des Herrn zu gehen hatte.
Obwohl er Donnersohn hieß, atmet sein Evangelium und noch mehr seine Briefe den
Geist einer großen Abgeklärtheit und Vollendung in Gott. „Seine Gebote sind
nicht schwer.“ (1. Jo 5,4) Das ist das Bekenntnis des ureigensten Erlebens.
Man spürt es in jedem Satz, ja in jedem Worte, das er schreibt, wie er über
den Dingen steht, wie er stets der Jünger bleibt, der an der Brust des Herren
ruht. Wer kann es nicht fühlen beim Lesen seiner Briefe, dass dieser Jünger
wirklich im Herrn blieb und er in ihm? Die Schrecken erregenden Ausbrüche des
triebhaften Ich waren ihm fremd. Er kann sich wohl ereifern, aber nur für
seinen Meister. Sonst war er das ausgleichende Temperament im Apostelkollegium.
Menschen von der Veranlagung dieses Johannes werden stets das herrliche
Bekenntnis ablegen, das dieser Evangelist im hohen Greisenalter in seinem Brief
niedergelegt hat: „Geliebte, wenn unser Herz uns Vorwürfe macht, so ist Gott
größer als unser Herz. ER weiß alles. (1.Jo 3,20) „Bekennen wir aber unsere
Sünden, so ist er treu und gerecht. Er vergibt uns die Sünden und macht uns
rein von allem Unrecht.“ (1. Jo 1,9)
Paulus
und Johannes hatten verschiedene Wege zu gehen. Der göttliche Meister bestimmt
selbst, welchen Weg jeder einzuschlagen hat, und warnt in Petrus all seinen
Getreuen: „Wenn ich will, dass (Johannes) so bleibt, was kümmert dich das?“
(Jo 21,22) Beide Wege sind berechtigt, ja notwendig, damit die Mannigfaltigkeit
der Gnade Gottes in seiner Kirche offenbar werde. Doch welche Art der
Lebenshaltung von jedem gefordert wird, das liegt in Gottes freier Gnadenwahl.
Den Zeiten entsprechend wird die Kirche bald in seligem Brautjubel Brote
vermehren, die Lilien des Feldes pflücken und den Berg der Verklärung
besteigen, bald – und das weit häufiger – in der Wüste hungern, im Schweiße
des Angesichtes die Erde voller Dornen und Disteln bearbeiten und schließlich
mit todbetrübter Seele den Kalvarienberg hinaufwanken.
Bereits
in den apostolischen Zeiten standen Männer auf, die die menschliche Natur nicht
nur für infiziert, sondern sogar für total verdorben erklärten, die darum
sich gewisser Speisen enthielten und das Sakrament der Ehe für eine
Teufelseinrichtung hielten. Es ist bezeichnend, dass gerade Paulus, der doch von
den Aposteln am furchtbarsten unter seiner leidenschaftlichen Natur gelitten,
diesen falschen Lehren die Stirn bot und das denkwürdige Wort schreibt:
„Leibesübung ist zu wenigem nütze, die Frömmigkeit dagegen ist zu allem nütze.“
(1. Tim 4,8)
Die
Christus Jesus angehören, haben ihr Fleisch mit seinen Begierden ans Kreuz
geschlagen.“ (Gal 5,24) „Nichts Verdammenswürdiges findet sich mehr in
denen, die in Christus Jesus sin.“ (Röm 8,1)
Das
Pendel schlug nach der anderen Seite aus, als der schottische Mönch Pelagius
kurz nach der Zeit der Christenverfolgung im Gefühl des glanzvollen Sieges über
das Heidentum die Kraft der menschlichen Natur überschätzte und lehrte, dass
der Mensch nun alles aus sich vermöchte – ohne die helfende und führende
Hand Gottes. Wer erkennt nicht gerade in dem einsetzenden erregten Kampf die
weise und mächtige Gnadenwahl Gottes? Als den erfolgreichsten Verteidiger der
Gnade erwählte er einen Mann, der in seiner Jugend die ganze verbrecherische
Veranlagung einer sich selbst überlassenen Natur erfahren: Augustinus, den späteren
Bischoff von Hippo. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass in den
Augen der Kirche die Schmälerung der Gnade durch Pelagius schwerer wog als die
Belastung der erbsündlichen Natur durch die entgegengesetzte Irrlehre.
Augustinus hielt es seinem Jahrhundert mit der ganzen Wucht seiner Persönlichkeit
vor, dass es nicht unwirkliche und verlogene Demut sei, wenn auch die Heiligen täglich
beten müssen: „Vergib uns unsere Schuld.“ Denn ohne die Gnade sind selbst
unsere Tugenden glänzende Laster.
Jahrhunderte
lang hatte die Kirche im Mittelalter nun die Aufgabe, die Fundamente des
Glaubens in eifriger Missionsarbeit zu legen und auszubreiten. Die Lehre des hl.
Augustinus hatte zu tief die Gemüter beeindruckt, als dass jemand an ihr zu rütteln
wagte. Als jedoch die Sittenverderbnis des 10. Jahrhunderts wohl durch den Bußgeist
der schwarzen Mönche von Cluny mit Erfolg bekämpft wurde, schlich unter dem
Einfluss der Kreuzzüge vom Orient her eine alte Irrlehre ein, die dem strengen
Mönchgeist Nahrung bot: die Auffassung, dass der Mensch so schlecht sei, dass
er auch durch die Taufe nicht erlöst werden könne. Darum strebten die
Irrlehrer danach, die Natur zu ertöten, entweder durch übermäßige Enthaltung
und Selbstkasteiung oder durch ein völlig sittenloses Leben. Überraschend
schnell griff diese Irrlehre um sich, trotz aller Verbote und Synoden.
In
dieser kritischen Zeit erweckte Gott als besten Anwalt der von Christus erlösten
Natur Franz von Assisi, der von seinen Zeitgenossen „Bruder Immerfroh“
genannt wurde. Trotz seiner persönlich strengen Lebensführung hielt er immer
Maß, nannte Sonne und Mond Bruder und Schwester und sprach in staunender
Begeisterung von der Mutter Erde. In ihm leuchtete die seraphische Schönheit
der menschlichen Natur auf, die von dem verklärten Herrn den Adel und den Königsschmuck
der leuchtenden Wundmale erhalten und so bereits auf Erden Anteil hatte an der
Vollendung unseres menschlichen Seins im Reiche des Lichtes.
Von
Franz von Assisi an zeigt das Mittelalter ein Doppelgesicht: die naturfrohe und
naturverwachsene Art dieses Heiligen und die herbe Bußstrenge der großen
Mystikerinnen, vor allem der hl. Brigitte und der hl. Katharina von Siena. Um
die Wende des 15. Jahrhunderts spitzten sich beide Lebensauffassungen zu
Irrlehren zu. Die Freude am geschaffenen Schönen, wie sie sich dem menschlichen
Auge in Natur und Kunst, in Poesie und Wissenschaft, in schäumendem
Lebensgenuss und stiller Daseinsfreude zeigt, artete aus zur Natur- und
Menschenvergottung eines Boccacio und Giordano Bruno. Der sittenstrenge Ernst
der idealen Seelen warf einen Luther und Calvin in die düstere Lehre von der gänzlichen
Verworfenheit der menschlichen Natur. Der Mensch sei wie ein faules Aas, Gott
muss ihm den goldenen Gnadenmantel umwerfen, um ihn wenigstens nach außen zu
rechtfertigen.
Gott
wachte auch in jenen Jahren über seine Kirche. Gegen diese doppelte Abirrung
rief er zwei Männer auf den Plan: Franz von Paul und Ignatius von Loyola. Der
eine hielt der lebenstrunkenen Renaissance vor: „Der Mensch ist ein Nichts,
darum ziemt ihm nur eine Tugend: abgründige Demut.“ Der andere schleuderte
die Losung in den Kampf: „Handle so, als ob alles von dir abhinge, vertraue
allerdings auch so, als ob alles von Gott abhängt.“
Als
nach dem Konzil von Trient eine Klärung der Fronten eintrat, - die einen
bleiben bewusst außerhalb der kirchlichen Einheit, die anderen schließen sich
in der Kirche zu einer festen Gemeinschaft zusammen – da schenkte Gott der
Kirche einen Mann, der die völlige Harmonie beider Auffassungen, den Ausgleich
der Gegensätze darstellen sollte; Franz von Sales, den Bischof von Genf. In
seiner Jugend lernte er den ganzen Bußernst des „Christlichen Kampfes“
kennen, wie ihn der Theariner Seupoli predigte, zugleich aber führte ihn die
Erfahrung immer tiefer in das Wesen der Vollkommenheit, sodass er klar Ideen und
Formen zu scheiden wusste.
Er
wollte nichts preisgeben von der Freude an allem, was Gott geschaffen, und fand
darum nicht im Verzicht an sich das höchste Ideal. Andererseits erkannte er
klar die Notwendigkeit steter Selbstverleugnung, um nicht in Abhängigkeit von
Welt und Leidenschaft zu geraten. So ist es sein Verdienst, dass er wiederum den
Akzent auf das Wesentliche allen Strebens nach Vollkommenheit legte: auf jenes
Pauluswort: „Die Liebe ist die Erfüllung des Gesetzes.“ (Röm 13,10) Mit
Augustinus ist er der Ansicht: „In den Schriften befiehlt Gott nichts als die
Liebe und verbietet nichts als die Gier.“ Darum ist seine stete Forderung:
„Die beste Buße und Abtötung ist die Erfüllung des Gebotes der Liebe.
Fasten, sich geißeln, Nachtwachen und langes Chorgebet sich auferlegen, liegt
nicht in jedermanns Gewalt; wohl aber die Liebe üben, höflich sein, in Geduld
alle Widerwärtigkeiten seines Berufes und seiner Umgebung ertragen. Die Abtötung
des Eigenwillens ist die wahre, sie ist das Ziel aller äußerer Abtötung.“
Ihr Ideal sah er im stillen Wirken der Mutter des Herrn selbst verwirklicht.
Es
wäre jedoch verfehlt, wollte man ihn zu einem Lehrer jener von ihm so scharf
bekämpften „parfümierten Heiligkeit“ stempeln, jener Heiligkeit, die Ärgernis
am Kreuz nimmt. Im Gegenteil: der hl. Vinzenz von Paul, der ihn wie sein eigenes
Ich kannte, bezeugt von ihm: „Ich kenne keinen Heiligen, der abgetöteter ist
als der Bischof von Genf, aber keinen Seelenführer, der mehr abzutöten
versteht als er.“ Denn zu sehr stand er unter dem Einfluss der spanischen
Mystikerin Theresia, die als höchste Seligkeit das eucharistische Sühneleiden
der Liebe ihrem Jahrhundert vorlitt. So schloss er sich in freiester Überzeugung
dem hl. Augustinus an: „Wer liebt, muss leiden; aber er leidet nicht, denn er
liebt das Leiden.“ ER schrieb den bezeichnenden Satz: „Ich halte mehr von
dem Gekreuzigten als vom verherrlichten Christus. Die Engel beneiden uns darum,
dass wir aus Liebe zum Herrn leiden dürfen.“ So gewinnt seine feine
Menschlichkeit die stille Verklärung des Auferstandenen, der in den Strahlen
der aufgehenden Ostersonne als schönste Verklärung und Veredlung seiner
menschlichen Natur das blutrote Rubinleuchten seiner heiligen Wundmale, vor
allem seines Herzens, trug. Daher hat Pius XI. als Urteil der Kirche dem
Heiligen nachgerühmt: „Die Natur hat er nicht auszurotten versucht, sondern
sie zu besiegen und zu veredeln getrachtet.“ So findet gerade in Franz von
Sales die Harmonie von Natur und Gnade ihre schönste Verwirklichung, sodass es
bis in unsere Zeit als der Heilige gnadenverklärter Menschlichkeit gilt.
Dieser
Aufsatz von Pater Hubert Pauels erschien in der Zeitschrift „Licht“ in der
Nummer 2 im Jahre 1948 und wurde für das Internet abgeschrieben.
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